5 Fragen
an Carmen Fabritius, Dipl. Psychologin und systemische Kinder- und Jugendtherapeutin (SG) in unserem Projekt HideOut
1. Carmen, du arbeitest seit vielen Jahren als Psychologin für die afka. Kannst du aus deiner Erfahrung bestätigen, dass sich die psychische Gesundheit von Jugendlichen in den letzten Jahren verschlechtert hat?
Ja, das kann ich eindeutig bestätigen. Schon seit mehreren Jahren erleben wir über die Schulsozialarbeit an den Beruflichen Schulen, dass immer mehr junge Menschen mit psychischen Problemen zu kämpfen haben – oft auch mit sehr schweren Belastungen. In unseren Jugendprojekten zeigt sich häufig, dass hinter den Themen, die zunächst als Anlass für eine Beratung genannt werden auch eine psychische Problematik steckt, die erst im Gespräch sichtbar wird. Dass also Schwierigkeiten, eine Ausbildung zu finden, Probleme im Ausbildungsalltag oder in der Schule, auch durch psychische Probleme ausgelöst oder verstärkt werden.
Im Unterschied zu früheren Jahren ist es heute deutlich schwieriger, junge Menschen an eine psychologische Beratungsstelle oder in eine Therapie zu vermitteln. Die Angebote reichen einfach nicht aus. Für die Suche nach einem Therapieplatz muss man sehr hartnäckig sein, und viele Jugendliche sind von ihren akuten Problemen so überfordert, dass sie die Kraft dafür gar nicht aufbringen können. Viele Jugendliche bleiben unversorgt, obwohl sie dringend Hilfe brauchen.
2. Welche Gründe vermutest du für diese Verschlechterung?
Da kommen wohl mehrere Faktoren zusammen. Corona hat viele geprägt und Entwicklungen beschleunigt, die sich vorher schon angedeutet haben: Viele leiden unter Einsamkeit und sozialer Isolation. Kontakte über digitale Medien haben eine andere Verbindlichkeit als Freundschaften im realen Leben. Viele sind sehr aktiv in sozialen Medien und fühlen sich gleichzeitig einsam und verunsichert, wenn sie die Bilder und Geschichten in sozialen Medien mit ihrer eigenen Realität vergleichen.
Dazu kommen Krisen und Umwälzungen, die unser Leben langfristig verändern werden: Klimawandel, Kriegsgefahr und wirtschaftliche Unsicherheit. Es fällt ihnen schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Viele Jugendliche erzählen mir, dass sie sich fragen, wie ihre Zukunft überhaupt aussehen kann. Dieses Gefühl begleitet sie oft im Alltag.
Was mir auch Sorgen macht: Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Jugendliche, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, weil sie zum Beispiel queer sind oder dunkle Hautfarbe haben, spüren das im Alltag deutlich.
3. Mit welchen Themen kommen Jugendliche zu dir?
Jugendliche kommen mit sehr unterschiedlichen Themen zu mir. Viele kämpfen mit Angststörungen, depressiven Phasen oder selbstverletzendem Verhalten. Andere reagieren mit starker Wut oder Aggression, weil sie keinen anderen Weg finden, mit ihrem Stress umzugehen.
Einige sind durch schwere Erfahrungen belastet. Dazu gehören körperliche oder sexuelle Gewalt, Missbrauch, oder das Aufwachsen in Familien, in denen Alkoholabhängigkeit oder psychische Erkrankungen der Eltern den Alltag prägen. Andere sind durch Kriegs- oder Fluchterfahrungen schwer traumatisiert.
4. Wie kannst du den Jugendlichen mit ihren psychischen Problemen helfen?
Bei Themen wie Angststörungen oder depressiven Phasen lassen sich oft schon mit wenigen Beratungsgesprächen Fortschritte erzielen. Die Jugendlichen lernen zu verstehen, was in ihnen vorgeht, und bekommen Strategien, um besser damit umzugehen. Ich arbeite daran, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und ihr Bewusstsein für die eigenen Ressourcen zu fördern.
Bei Jugendlichen, die schon länger psychisch belastet oder schwer traumatisiert sind, reichen wenige Sitzungen nicht aus. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, die akuten Symptome zu lindern und die Jugendlichen soweit zu stabilisieren, dass sie die Schule oder Ausbildung fortführen können. Gleichzeitig sensibilisiere ich sie dafür, diese Themen in einer Therapie aufzuarbeiten, sobald ihre Lebenssituation es zulässt. Jugendliche in akuten, schwerwiegenden Krisen werden bei der Suche nach einem Therapieplatz unterstützt.
5. Was sollten Politik und Gesellschaft tun, damit psychisch belastete junge Menschen nicht allein gelassen werden?
Rund 75 % aller chronischen psychischen Erkrankungen entwickeln sich bis zum 25. Lebensjahr. Junge Menschen sind also besonders gefährdet – gleichzeitig bieten sich hier große Möglichkeiten zur Prävention. Das Erwachsenwerden eröffnet die Chance, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich aus belastenden Situationen zu lösen.
Bisher haben weder Politik noch Gesundheitssystem adäquat auf diese Herausforderung reagiert. Dabei geht es nicht nur um mehr Angebote, sondern auch um passgenaue Unterstützung. Viele bestehende Angebote lassen sich nicht gut mit der Lebensrealität junger Menschen vereinbaren, insbesondere für Auszubildende mit wechselnden Arbeits- und Unterrichtszeiten. Regelmäßige Termine in einer herkömmlichen Therapie sind für sie oft nur schwer wahrnehmbar.
Junge Menschen brauchen niederschwellige Angebote und Ansprechpersonen, die flexibel auf ihre Bedürfnisse reagieren. Die Praxis zeigt deutlich, wie wirksam solche Unterstützung ist. Die Rückmeldungen der Jugendlichen, die über HideOut Beratung erhalten haben, sind überwältigend positiv. Wir hoffen, dass die Politik die psychische Belastung junger Menschen ernst nimmt und Fördermöglichkeiten für Projekte wie HideOut schafft, damit niemand in Krisen allein gelassen wird.

